EuGH: Wiedergabe von Tonträger in Zahnarztpraxis ist keine öffentliche Wiedergabe und führt zu keinem Vergütungsanspruch der Tonträgerhersteller


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In einem Urteil vom 15. März 2012 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass ein Zahnarzt der kostenlos Tonträger in seiner Privatpraxis wiedergibt, keine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne des EU-Urheberrechts vornimmt. Folglich schuldet der Zahnarzt gemäss dem EuGH den Tonträgerherstellern auch keine Vergütung. Begründet wird dies einerseits damit, dass die Wiedergabe nicht an eine unbestimmte Vielzahl von Personen erfolge. Andererseits ist mit einer solchen Wiedergabe gemäss EuGH auch kein Erwerbszweck verbunden.

Rechtliche Ausgangslage

Das EU-Recht verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie in ihren Gesetzen eine Vergütungspflicht für die öffentliche Wiedergabe eines zu Handelszwecken veröffentlichten Tonträgers vorsehen. Diese Vergütungen stehen den Herstellern von Tonträgern sowie den ausübenden Künstlern zu und sind vom Nutzer des Tonträgers zu bezahlen (vgl. Art. 8 Abs. 2 der sog. Vermiet- und Verleih-Richtlinie, Nr. 2006/115/EG).

Sachverhalt

Die Società Consortile Fonografici (SCF) ist in Italien mit der Verwaltung, dem Einzug und der Aufteilung der Gebühren der ihr angehörenden Tonträgerhersteller beauftragt. Im Rahmen ihrer Tätigkeit erhob sie Klage gegen einen Zahnarzt, weil dieser in seiner privaten Praxis als Hintergrundmusik geschützte Tonträger wiedergegeben und er für diese Tätigkeit eine Vergütung zu entrichten habe. Das zuständige Turiner Berufungsgericht hat in der Folge dem EuGH verschiedene Fragen zur Interpretation der EU-rechtlichen Vorgaben vorgelegt.

Entscheid des EuGH: keine öffentliche Wiedergabe und kein Vergütungsanspruch

In seinem Urteil vom 15. März 2012 (C-135/10) setzt sich der EuGH dementsprechend mit der Frage auseinander, ob die kostenlose Wiedergabe von Tonträgern in einer privaten Zahnarztpraxis eine „öffentlichen Wiedergabe“ im Sinne des EU-Rechts darstellt. Hierbei verweist er auch auf ein Urteil vom selben Tag (C-162/10) zur Frage der Vergütung für die Wiedergabe von Tonträgern in Gästezimmern eines Hotels (vgl. BR-News vom 12.4.2012). Der Gerichtshof hält allgemein fest, dass für diese Beurteilung die Situation eines bestimmten Nutzers und sämtlicher Personen betrachtet werden müsse, für die dieser die geschützten Tonträger wiedergibt. Massgebend seien dabei mehrere miteinander verbundene Kriterien.

Zu diesen Kriterien gehört gemäss EuGH erstens die zentrale Rolle des Nutzers. Der Nutzer nehme dann eine öffentliche Wiedergabe vor, wenn er in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens seinen Kunden Zugang zu einer Rundfunksendung verschafft, die das geschützte Werk enthält. Zweites Kriterium ist sodann die „Öffentlichkeit“ der Wiedergabe. Hierzu hält der EuGH fest, dass „Öffentlichkeit“ eine unbestimmte Zahl potenzieller Leistungsempfänger bedeute und diese ferner aus „recht vielen Personen“ bestehen müsse. In Bezug auf die Unbestimmtheit der Öffentlichkeit erklärte der EuGH, dass es sich um eine Wiedergabe an „Personen allgemein“ handeln müsse; also nicht um eine Wiedergabe beschränkt auf besondere Personen, die einer privaten Gruppe angehören. Mit dem Kriterium „recht viele Personen“ sei ferner gemeint, dass der Begriff „Öffentlichkeit“ eine bestimmte Mindestschwelle beinhalte und somit nicht zutreffe für eine allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl von Personen. Drittens ist gemäss EuGH auch entscheidend, dass die Wiedergabe Erwerbszwecken dient. Es werde also vorausgesetzt, dass sich der Nutzer gezielt an das Publikum wende, für das die Wiedergabe vorgenommen wird, und dass das Publikum in der einen oder anderen Weise für diese Wiedergabe aufnahmebereit sei und nicht bloss zufällig erreicht werde.

Anhand dieser Kriterien hat der Gerichtshof in der Folge beurteilt, ob im vorliegenden Fall eine öffentliche Wiedergabe vorliegt. Er hält zunächst fest, dass die Patienten eines Zahnarztes sich zwar innerhalb des Empfangsgebiets des die Tonträger übermittelnden Signals befinden, jedoch nur aufgrund des absichtlichen Tätigwerdens des Zahnarztes in den Genuss der Tonträger kommen. Folglich werde der Zahnarzt bei der Wiedergabe der Tonträger absichtlich tätig.

Das zweite Kriterium für das Vorliegen einer öffentlichen Wiedergabe ist demgegenüber gemäss dem EuGH nicht erfüllt. Patienten eines Zahnarztes bilden dem Gerichtshof zufolge eine Gesamtheit von Personen, deren Zusammensetzung weitgehend stabil sei und stellen somit eine bestimmte Gesamtheit potenzieller Leistungsempfänger dar, weil andere Personen grundsätzlich keinen Zugang zur Behandlung durch den Zahnarzt haben. Daher handle es sich nicht um «Personen allgemein».

Schliesslich gelangt der Gerichtshof darüber hinaus zum Schluss, dass die Wiedergabe im vorliegenden Fall auch nicht zu Erwerbszwecken erfolgt. Der Zahnarzt könne vernünftigerweise nicht allein wegen des Abspielens von Hintergrundmusik eine Erweiterung seines Patientenbestands oder eine Erhöhung der Preise für seine Behandlungen erwarten. Daher sei eine solche Wiedergabe nicht geeignet, sich auf die Einkünfte des Zahnarztes auszuwirken. Ferner begeben sich die Patienten des Zahnarztes gemäss EuGH zu dem einzigen Zweck der Behandlung in eine Zahnarztpraxis und eine Wiedergabe von Tonträgern gehöre nicht zur Zahnbehandlung. Der Gerichtshof halt ferner fest, dass die Patienten zufällig und unabhängig von ihren Wünschen je nach dem Zeitpunkt ihres Eintreffens in der Praxis und der Dauer des Wartens sowie der Art der ihrer Behandlung Zugang zu bestimmten Tonträgern geniessen. Unter diesen Umständen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die normalen Patienten eines Zahnarztes für die Wiedergabe der Tonträger aufnahmebereit wären.

Vor diesem Hintergrund nimmt ein Zahnarzt der kostenlos Tonträger in seiner Praxis für seine Patienten wiedergibt, die unabhängig von ihrem Willen in deren Genuss gelangen, gemäss dem EuGH keine öffentliche Wiedergabe im Sinne des EU-Rechts vor. Eine solche Wiedergabe begründet folglich auch keinen Anspruch der Tonträgerhersteller auf Vergütung.
Weitere Informationen:

Ansprechpartner: Lukas Bühlmann


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